Grippe, Covid & Co.
November 7, 2022Frühlings Rezepte
Mai 8, 2023Psychiatrie und Pflege: Gemeinsam stark in der Patienbetreuung
WARUM PSYCHIATRIE UND PFLEGE IM AMBULANTEN BEREICH INTENSIVER ZUSAMMENARBEITEN SOLLTEN.
MARTIN WICHMANN IM INTERVIEW MIT QURATEAM.
Was ist psychiatrische Pflege?
Ambulante psychiatrische Pflege
In diesem Setting besuchen Pflegekräfte die Patienten zu Hause. Sie unterstützen die Bewältigung des Alltags, der für viele psychisch erkrankte Menschen, mit Hürden verbunden ist: Einnahme der Medikamente, Erledigen täglicher Aufgaben, Einhalten von Terminverbindlichkeiten und vielem mehr. Angestrebt wird dabei die Betreuung durch eine, zumeist einzige Pflegekraft, sodass ein gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Es gilt das Prinzip “Hilfe zur Selbsthilfe”.
Stationäre psychiatrische Pflege
In diesem Setting ist ein Team von Pflegekräften immer vor Ort und betreut die Patienten teilweise sehr intensiv, ähnlich wie in der klassischen Krankenpflege. Aber auch gemeinsame sportliche oder soziale Aktivitäten gehören zum Aufgabengebiet. Je nach Einrichtung begleiten Pflegende auch die Wiedereingliederung in das Leben ausserhalb der Klinik.
In beiden Settings steht die Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber dem Menschen immer im Vordergrund. Die Hauptaufgabe der Pflegenden besteht im Vermitteln von Struktur und Sicherheit.
Martin Wichmann: In meiner Familie arbeiten Viele in der Pflege. Ich würde mich als hilfsbereiten Menschen mit grossem Gerechtigkeitssinn beschreiben. Diese Kombination hat mich dazu gebracht, einen pflegerischen Beruf zu ergreifen. Von der Altenpflege, zur Krankenpflege, bis ich schlussendlich im psychiatrischen Setting sesshaft wurde.
Q.: Was beobachtest du für Veränderungen in deinem Beruf?
M.W.: Es gibt immer mehr Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, dementsprechend steigt der Bedarf an Pflege. Durch den ständigen Personalmangel wird unsere Arbeit jedoch erheblich erschwert: Wir bräuchten mehr Zeit, haben aber immer weniger zur Verfügung. Ich habe den Wunsch und den Anspruch, den Menschen im Ganzen zu sehen. Nicht nur als Patient und schon gar nicht nur als Nummer. Diesem Anspruch gerecht zu werden empfinde ich als immer schwieriger.
Zwischen Vision und Umsetzung gibt es Raum, den es zu füllen gilt. Diese Aufgabe übernehmen wir mit der psychiatrischen Pflege.
Q.: Wo siehst du im therapeutischen (Genesungs-)Prozess die Stärken der ambulanten Pflege?
M.W.: Wir sind Teil des Alltags unserer Patienten: Wir sind zu Hause, quasi im Brennpunkt. So können wir schnell und gezielt interagieren und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Wir coachen durch Alltagssituationen, die von den Patienten nicht alleine bewältigt werden können. Dabei ist unser Aufgabenfeld ganz klar von der therapeutischen Arbeit getrennt.
Q.: Wie würdest du die therapeutische Rolle im Kontrast zu deiner Arbeit beschreiben?
M.W.: Psychiater legen mit den Patienten das therapeutische Ziel fest und begleiten dies durch regelmässige Termine und, falls nötig, entsprechender Medikation. Nach meinem Eindruck fällt es Patienten aber oft schwer, diese Ziele im Alltag bei sich zu Hause umzusetzen. Wir betreuen die Patienten in ihrem privaten Umfeld und sind dadurch mitunter “näher dran”.
Mein Ziel wäre es, noch enger mit den Therapeuten zusammenzuarbeiten, um so einen besseren Austausch im Sinne des Patientenwohls zu gewährleisten. Sowohl zu Beginn, als auch im Prozess einer Therapie wäre es für unsere Arbeit sehr hilfreich mehr als nur die Diagnose zu erfahren. Wir könnten wiederum wertvolle Beobachtungen aus dem Alltag mit den Therapeuten teilen. Einen regelmässigen Austausch alle 2-3 Monate halte ich für sinnvoll.
Q.: Welche Patienten könnten davon am meisten profitieren?
M.W.: Depressive Patienten können bestens in der Gesprächstherapie erlernen, “geistig” aus der Krankheit herauszufinden. Doch jeden Tag aufzustehen, am Alltag teil- und Termine wahrzunehmen, fällt ihnen in der Praxis oft sehr schwer. Eine pflegerische Begleitung unterstützt das Umsetzen von in der Therapie Erlerntem bestmöglich.
Aber auch Angstpatienten profitieren: Beim Expositionstraining begleiten wir regelmässig alltägliche Aktivitäten (beispielsweise ausserhalb der vier Wände einen Kaffee trinken zu gehen) und zeigen so auch am eigenen Leib, quasi als Versuchskaninchen, dass man dadurch nicht wirklich in Gefahr ist.
Suchtpatienten unterstützen wir dabei, nicht rückfällig zu werden. Aber falls es passiert, fangen wir sie sehr zeitnah auf, sodass sich unerwünschte Verhaltensweisen nicht erneut manifestieren können. Patienten mit Strukturproblemen, welche oft bei psychiatrischen Krankheiten auftreten, gewinnen enorm von gemeinsamen Erfolgserlebnissen.
Grundsätzlich ist ein grosser Pluspunkt unserer Arbeit, dass wir ein enges Vertrauensverhältnis aufbauen können, das insbesondere durch den “gemeinsamen” Alltag getragen wird.
Q.: Wie würde für dich eine gelungene Zusammenarbeit zwischen psychiatrischer Pflege, Psychologen und Psychiatern aussehen? Oft findet eine erste Begegnung ja erst zum Ende einer Therapie statt.
M.W.: Meist ist es so, dass die psychiatrische Pflege erst in Anspruch genommen wird, wenn der Patient als austherapiert gilt. Dabei hat eine Zusammenarbeit bereits zu Beginn grosse Vorteile! Die psychiatrische Pflege kann den therapeutischen Prozess unterstützen und so zur Genesung beitragen. Ich möchte betonen, dass wir den Therapeuten keineswegs die Arbeit wegnehmen wollen, sondern im Gegenteil ein Plus an Hilfe bieten.
Q.: Ich sehe das genau wie du: gerne so früh wie möglich mit der Zusammenarbeit beginnen! Beispielsweise bei einem diagnostischen Prozess, der keine klassische Diagnose, sondern das Beobachten des Alltags - wo Unterstützung gebraucht wird - zum Ziel hat. Hier erfährt der Patient in seinem Genesungsprozess grosse Vorteile von der psychiatrischen Pflege.
M.W.: Ausserdem steigt die Zahl der psychisch Erkrankten ständig. Durch eine Zusammenarbeit können Praxen mehr Patienten aufnehmen, da nicht-akute Bestandspatienten durch die psychiatrische Pflege betreut werden.
Q.: Ja, auf diese Art und Weise können trotz explodierender Wartelisten Patienten schneller aufgenommen werden. Die psychiatrische Pflege übernimmt den Transfer am Ende einer Therapie und entlastet so die Therapeuten. Was diesen wiederum ermöglicht, neue Patienten aufzunehmen, da sie ihre austherapierten Patienten in guten Händen wissen.
Wenn die Wartezeit auf einen Therapieplatz verkürzt wird, sinkt auch die Gefahr einer Chronifizierung der wartenden Patienten.
Ein weiterer Vorteil der engen Zusammenarbeit ist die Reduktion von Krankenhauseinweisungen, da eine engmaschige häusliche Pflege in vielen Fällen ausreicht. Insbesondere dann, wenn Therapeut und Pflege bereits intensiv kooperiert und/oder die betroffene Patient*in bereits im Vorfeld ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihrer Pflegeperson aufgebaut hat.
M.W.: Wir können die Betreuung fliessend und individuell abstufen: Auch eine tägliche Pflege ist möglich, so können Krisen und Spitaleintritte gut verhindert werden.
Q.: Ich sehe die Rolle der Pflege auch in der Stärkung der Therapeut*in, nicht nur der Patient*in: Mit dem Wissen, dass durch die psychiatrische Pflege jederzeit Signale gesendet werden können, wenn eine therapeutische Intervention benötigt wird, gewinnen Therapeuten auch den Mut, sich auf komplexe Fälle einzulassen.
Aber sprechen wir nochmals über das Therapieende. Meiner Meinung nach ein ganz entscheidender Aspekt im Prozess. Wie siehst du das?
M.W.: Ich bin überzeugt, dass Therapie und psychiatrische Pflege unmittelbar zusammengehören - aber nicht gleichzeitig ein Ende finden sollten.
Die Beziehung zum Therapeuten ist für Patienten enorm wichtig, fällt diese durch das Therapieende weg, wirkt dies destabilisierend. Da kann es von grossem Vorteil sein, die psychiatrische Pflege weiterlaufen zu lassen, um den Transfer milder zu gestalten. Auch die Beobachtungen der Pflegeperson in dieser Phase können wertvoll sein: unerwünschte Veränderungen fallen so viel schneller auf und können gestoppt werden.
Wenn alles gut läuft, kann die Pflege natürlich zeitnah ausgeschlichen und beendet werden, aber falls etwas “aus dem Ruder läuft”, ist der Kontakt zum Therapeuten schneller wieder hergestellt. Ein weiterer Pluspunkt einer engen Zusammenarbeit.
In der aktuellen Situation, mit steigenden Erkrankungszahlen und gleichzeitigem Personalmangel sehe ich ein grosses Potenzial in der Zusammenarbeit zwischen psychiatrischer Pflege und Therapeuten. Dies könnte die Qualität des therapeutischen Prozesses für alle Beteiligten steigern und gleichzeitig oftmals die Therapiedauer reduzieren. Wünschenswert wäre darüber hinaus natürlich auch eine grundsätzliche Änderung: Wir brauchen im ambulanten Bereich mehr psychiatrische Pflegekräfte und dafür finanzielle Anreize, sodass mehr Menschen diesen spannenden Beruf ergreifen und weniger erfahrene Pflegekräfte aussteigen.
Wünsche und Visionen der Zusammenarbeit von psychiatrischer Pflege und Therapie
Insbesondere in den Übergängen der verschiedenen Therapie-Settings, aber auch im laufenden Prozess können Therapeuten und Patienten von der Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Pflege profitieren. Der gemeinsame Austausch über Therapieziele und Beobachtungen über deren Umsetzung im Alltag, tragen zur Behandlungsqualität bei und können den Genesungsprozess beschleunigen.
Der Einbezug der psychiatrischen Pflege sollte dabei bereits zu Beginn der ambulanten Therapie erfolgen und über deren Ende hinausgehen. So kann die Therapiedauer verkürzt werden und die destabilisierende Phase des Therapieendes von den Pflegefachkräften begleitet werden. Ein erneutes therapeutisches Intervenieren bei Bedarf, kann durch entsprechende Signale der psychiatrischen Pflege schnell eingeleitet werden.
Durch eine enge Zusammenarbeit können auch Spitaleintritte während oder nach der Therapie reduziert werden, da in einigen Fällen eine intensivere häusliche Pflege ausreicht.
Bei Beendigung einer stationären Therapie erleichtert die psychiatrische Pflege die Wiedereingliederung in den Alltag und unterstützt eine mögliche ambulante Weiterführung der Therapie.
Ein Artikel der Qurateam Redaktion in Zusammenarbeit mit Martin Wichmann © 2022 Qurateam AG